TANZTEE

EINE KURZE GESCHICHTE

Zum ersten Mal in der Disco. Bei einem kaschierten „Tanztee“. Ich bin nicht die beste Tänzerin. Als mich dieser pickelige Junge zum Tanz aufforderte freute ich mich. An den Song oder was wir dazu tanzten, erinnere ich mich nicht mehr. Discofox vermutlich. Er war einen Kopf kleiner als ich. Seine Nase klebte in meinem Ausschnitt.

Und dann zuckten die Blitze stroboskopisch. Grell erleuchteten sie den Saal. Die Gegenstände begannen sich in geometrische Formen zu zerlegen. Ich hatte das Gefühl, sie aus verschiedenen Blickwinkeln gleichzeitig betrachten zu können und sie in ihrem Wesen zu verstehen. Ihre räumlichen Beziehungen zueinander lösten sich auf, bis sie zu einer perfekten Projektion im Zweidimensionalen wurden. Der Boden kippte nach oben. In dem Bild befanden sich zwei verspiegelte Säulen, aber keine Information über ihre Position im realen Raum.

Ich schloss die Augen und dachte an die letzte Doppelstunde Kunstunterricht. Thema Kubismus. Ende 1906 zogen Pablo und sein Kumpel George los, um ein paar Musen aufzureißen. Sie näherten sich gerade ein paar feschen Bienen, als sich der Besitzer des kleinen Cafés auf den Montmartre entschloss, seine neuste Errungenschaft auszuprobieren.

Und dann zuckten die Blitze stroboshopisch. Grell erleuchteten sie den Saal. Die Gegenstände begannen sich in geometrische Formen zu zerlegen. Picasso und Braque hatten das Gefühl, sie aus verschiedenen Blickwinkeln gleichzeitig betrachten zu können und sie in ihrem Wesen zu verstehen. Ihre räumlichen Beziehungen zueinander lösten sich auf, bis sie zu einer perfekten Projektion im Zweidimensionalen wurden. Der Boden kippte nach oben und George verlor den Halt. Er schlug der Länge nach hin. Pablo vernahm ein weibliches Kichern, bevor er völlig orientierungslos gegen eine der zwei vorspiegelten Säulen lief.

Aus den Musen wurde an diesem Abend nichts. Ihre Erlebnisse versuchten Pablo und George malend zu verarbeiten. Es schien auch ohne nackte Frauen im Atelier ganz gut zu laufen. Auch wenn sie versuchten die ein oder andere Erinnerung auf Leinwand einzufangen. Ihre Bilder wurden als revolutionäre Neuerung gefeiert. Mit Beginn des ersten Weltkrieges, 1914, hörten sie auf kubistische Bilder zu malen. Sie hatten nun andere Traumata zu verarbeiten.

Der picklige Winzling beklagte sich, dass ich ihm auf den Fuß getreten sei. Er bedankte sich trotzdem artig für den Tanz, ließ mich aber stehen. Auf dem Weg zurück zu meinem Platz am leeren Tisch lief ich orientierungslos gegen eine der beiden verspiegelten Säulen.

Der Themenbereich „übersensible Wahrnehmung“ umfasst folgende weitere Artikel: Insomnia, Kopfkarussell und Marsianisch.

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