SÜNDENBOCK

Wer hat Angst voRM bösen Wolf?

Märchen und Fabeln, aber auch Disney-Filme für Kinder, arbeiten mit einer starken Polarisierung und Stereotypisierung. Es gibt den Helden und den Bösewicht, das Gute und das Böse. Dazwischen gibt es nichts.

Betrachten wir einmal den Bösewicht näher. Zumeist ist er ein Fantasiewesen, wie eine Hexe, ein Drache oder ein Riese, oder aber ein Tier. Im Märchen „Das Rotkäppchen“ frisst der böse Wolf eine Großmutter und deren Enkelin. In „Der böse Wolf und die sieben Geißlein“ wird ebenfalls gefressen. Diesmal sechs Zicklein. Auch in Fabeln übernehmen bekannte, einheimische Tiere diesen Part. Neben Reineke, dem schlauen und hinterlistigen Fuchs, spielt auch hier Isegrim, der verfressene Wolf den Bösen. In „Der Lamm und das Wolf“ frisst er das unschuldige Lamm, trotz dass es alle seine Vorwürfe entkräften kann.

Tiere stellen charakteristische Stereotypen dar

Die Tiere handeln in Märchen und Fabeln wie Menschen und stellen charakteristische Stereotypen dar. So können bestimmte Verhaltensweisen kritisiert werden, ohne dass sich eine konkrete Person angegriffen fühlen muss. Die Zuordnung von Charakter und Tier scheint dabei über alle Märchen und Fabeln hinweg festgelegt zu sein. Vom Prinzip her gleich, nur oft mit exotischeren Settings, funktionieren die Kinderfilme. Die Geschichten spielen in einer Unterwasserwelt, der afrikanischen Steppe oder dem Dschungel. Damit kommen Haie und Muränen, Hyänen und Geier oder Schlangen zur Liste der Bösen hinzu.

Mein Sohn schaut einen Kinderfilm, in dem es unterschwellig um Themen wie Freundschaft, Zusammenhalt, Mut und ähnliche Tugenden geht. Vordergründig retten fünf Tierfreunde andere Tiere vor den Bösen, wie trottelige Hyänen, endlos diskutierende Geier und gefräßige Krokodile. Aktuell fasziniert es ihn, dass die Dinosaurier ausgestorben sind. Und er ist in einem Alter, in dem sich Stöcke schnell in Pistolen verwandeln und die wundersamsten Kanonen aus Papier ausgeschnitten werden. Folgerichtig brüllt er am Ende des Films: „Ich schieße alle Geier tot! Dann sind sie ausgestorben!“

Haben wir nicht alle irgendwie noch ein bisschen Angst vorm bösen Wolf?

Was macht das mit uns? Und was macht das mit den Tieren? Dass es Hexen, Drachen und Riesen nicht gibt, weiß man als Erwachsener. Aber wie verhält es sich mit den im realen Leben existierenden Tieren? Ist einmal ein Verdacht in die Welt gesetzt, bleibt gewöhnlich unterbewusst auch dann noch etwas davon hängen, wenn dieser rational längst entkräftet ist. Haben wir nicht alle irgendwie noch ein bisschen Angst vorm bösen Wolf?

Unser Verhältnis zum Wolf ist ambivalent. Er wird starkes und überlegenes Tier bewundert. Das spiegelt sich in dem heute nur noch selten vergebenen Vornamen Wolfgang wieder oder in der Faszination für die wolfsähnlicheren ihrer domestizierten Verwandten: Wolfs- und Schlittenhunde. Aber er reißt eben auch gelegentlich ein Schaf oder anderes Weidetier und ist in der Lage den Menschen anzugreifen. Dafür wird er über die Maßen gefürchtet. Es ist offensichtlich, dass von ihm eine geringere Gefährdung ausgeht, als die Jagd – die zu seiner Ausrottung in Nord- und Mitteleuropa führte – und als die Diskussionen um seine Wiederansiedlung nahe legen.

Ich erkläre meinem Sohn, dass auch Geier Lebewesen sind, und man alle Lebewesen mit Respekt behandeln muss. Außerdem haben sie eine wichtige Funktion. Als Aasfresser fressen die Geier zusammen mit den Hyänen tote Tiere bevor diese anfangen zu stinken.

Hyänen und Geier sind eine effiziente Müllabfuhr

Wie kommt die Zuordnung der charakteristischen Stereotypen zu den Tieren zustande? Der böse Wolf reißt nicht nur im Märchen, sondern auch gelegentlich in der Realität ein Zicklein. Im Schafspelz, wie uns die Bibel nahelegen will, erscheint er uns jedoch nur als Redewendung. Wenn wir denken, dass jemand böse ist und nur unschuldig tut. Hyänen und Geier sind hässlich, was sie mit der lediglich als dumm bezeichneten Pute gemein haben. Doch so böse wie uns Disney glauben machen will, sind sie in der Realität nicht. Beide sind eine effiziente Müllabfuhr, die die Ausbreitung von Keimen und Krankheiten verhindert. Sie tragen damit entscheidend zum Gleichgewicht der Ökosysteme bei, in denen sie leben.

Nicht in jedem schlechten Image einer Tierart lassen sich Spuren kindlicher Prägung finden. Märchen, Fabeln und Kinderfilme haben bestimmte Tierarten nicht oder zumindest nicht allein diskreditiert und zu den Bösen gemacht. Vielmehr nutzen sie bekannte charakteristische Stereotype, damit nicht jeder Charakter erst kompliziert aufgebaut und erklärt werden muss. Ohne den bösen Wolf und seine Kollegen würden sie nicht funktionieren. Aber sie tragen so leider auch zur Konservierung überholter Vorurteile und Ängste bei.

Mehr zum Thema „Wolf“ gibt es im Beitrag Wölfe.

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