Evolutionsbedingt bevorzugen kleine Kinder zunächst das Süße. Das minimierte die Gefahr etwas unverträgliches zu essen. Mit zunehmendem Alter ändert sich der Geschmackssinn. Man lernt die für den kindlichen Gaumen unerträglichen Oliven zu schätzen und zieht plötzlich die Zartbitter- der Vollmilchschokolade vor. Selbst meine Freundin Eva versenkt nicht mehr fünf Würfel Zucker im Tee. Und doch bleiben wir dem Zucker irgendwie verfallen.
Zucker gilt als Mitverursacher von Übergewicht und Diabetes. Im Prinzip wissen wir das, auch wenn wir das gerne ignorieren und trotzdem zu Kuchen, Schokolade und Cola greifen. Leider auch ich. Ein, wie ich finde, eher übersehenes Problem ist, wie dominant Zucker ist. Ab einer gewissen Menge schluckt er alle anderen Geschmäcker.
Seitdem eine andere langjährige Freundin, Britta, nach Dänemark ausgewandert ist, bekomme ich gelegentlich zum Geburtstag oder als Mitbringsel eine hübsche Schachtel, Dose oder Zellophantüte mit lecker aussehenden Pralinen geschenkt. So habe ich erst neulich wieder eine appetitlich ausschauende braun bestäubte Kugel aus einer Metalldose hervorgezaubert und sie mir genüsslich in den Mund geschoben… Igitt!
Nur wenige Minuten später folgte die zweite Kugel. Ich wusste eigentlich von Anfang an, dass es sich um eine dänische Lakritzspezialität handelt. Mein Geschmackssinn brauchte allerdings einen Moment, um sich zu gewöhnen, und um sich zu erinnern, wie mit einer solchen Praline umzugehen ist. Zwischenzeitlich hatte er zu viele Schokolinsen, Gummibärchen, Kekse und Schokoriegel über sich ergehen lassen müssen. Und in größerem Umkreis um meinen Wohnort habe ich noch keine Bäckerei gefunden, die süße Backwaren ohne dicke Zuckergussschicht anbieten. All diese Süßigkeiten haben gemein, dass sie extrem süß sind und dadurch irgendwie alle gleich schmecken.
Die zweite Kugel lasse ich auf der Zunge zergehen. Ein extrem herber, „naturbelassen“ schmeckender Lakritzgeschmack, der mit der süßen Colorado-Mischung wenig zu tun hat, trifft mich wie ein Fausthieb. Langsam löst sich dieser Geschmack in Schokolade aus, um kurz darauf in süßem Karamell zu enden. Zucker hatte das Ding vermutlich auch nicht weniger als die anderen Süßigkeiten. Aber einen deutlich komplexeren Geschmack!
Haben sich unsere Essgewohnheiten mittlerweile so verändert, dass wir komplexe Geschmäcker gar nicht mehr gewohnt sind? Dass wir gar ganze Geschmacksrichtungen verschmähen? Ich denke da an knackige Tomaten oder wohlgeformte Gurken aus dem Supermarkt, die quasi gar keinen Geschmack mehr haben. Vermutlich ist der bei der Optimierung hinsichtlich Haltbarkeit und Transportfähigkeit auf der Strecke geblieben. Der Joghurt war einst stichfest und leicht säuerlich. Heute ist er cremig und süßlich.
Und wo sind eigentlich die Bitterstoffe hin? Die fristen ihr Dasein in Liebhaberprodukten wie Artischocke, Chicorée und Zartbitterschokolade. Früher folgte auf den süßen Geschmack des Fruchtfleisches einer Traube ein Krachen und der herbe Geschmack der Kerne. Überhaupt, die Kerne. Wo sind die eigentlich geblieben? Dass Bananen keine mehr haben und alle Pflanzen empfindliche Klone sind, die ruck zuck bei der nächsten Pilzepidemie verschwunden sein werden, hat man schon mal gehört. Aber was ist mit den Kakis und wer nimmt unseren Kindern die Chance beim Melonenkern-Weitspucken zu gewinnen?
Verlieren wir unseren Geschmackssinn durch mangelndes Training? Tragen nicht nur der Zucker an sich, sondern auch unsere geänderten Geschmacksvorlieben zu gesundheitlichen Problemen bei?
Zitatquelle: Jo Robinson: „Lebensmittel als Medizin: Wie Nahrung heilen kann“. Riva, München 2018, 368 Seiten, 9,99 Euro.
Published by