HOCHZEIT

Eine kurze Geschichte

Es ist einer dieser älteren Züge. Mit breiten bequemen Sitzen in den Abteilen und Vorhängen vor der Scheibe zum Gang. Jetzt heiratet die dritte Freundin aus unserem Kleeblatt. Nur ich bin noch übrig. Mit einem Anflug von Melancholie schaue ich aus dem Fenster. Seit wenigen Minuten rollt der Zug. Sonnenbeschienene Felder und vereinzelte Häuser ziehen vorbei.

Das leise kratzende Geräusch der Abteiltür reißt mich aus meinen Gedanken. Der adrette junge Mann fragt höflich, ob er sich setzen darf. Mir fällt keine Ausrede ein. Ich nicke ihm zu und lächele. Zum Glück packt er ein Buch aus und vertieft sich darin. Erleichtert lehne ich mich zurück und schaue wieder aus dem Fenster.

Als mein Blick zurück kehrt, fällt er auf das aufgeschlagene Buch meines Reisegefährten. Code und Diagramme. Er schaut auf. Ich fühle mich ertappt und unterdrücke den Impuls schnell wegzuschauen. Aus Verlegenheit frage ich, ob er Informatikstudent ist. Ja, kurz vor dem Bachelor. Er schaut mich fragend und irgendwie erwartungsvoll an. Vor einer halben Ewigkeit habe ich das ebenfalls studiert. Damals noch auf Diplom.

Er fragt, ob er sich auf den Platz neben meinem setzen kann. Um sich nicht quer durch das Abteil unterhalten zu müssen. Wir reden über dies und das. Bis uns das leise Kratzen unterbricht. Bevor ich irgendetwas sagen kann, hat er dem Paar bedauernd versichert: die anderen Plätze seien leider schon besetzt. Die Tür geht wieder zu. Ich schaue ihn überrascht an.

Statt einer Erklärung spüre ich seine Lippen für einen kurzen Moment auf meinen. Ich bin überrascht, protestiere aber nicht. Er wertet das als Zustimmung. Küsst mich erneut. Länger, forscher, intensiver diesmal. Beim nächsten Kuss spüre ich eine federleichte Hand über meine Brüste streichen.

Nächster Halt „Stuttgart Hauptbahnhof“. Am Bahnsteig drängen sich die Menschen. Als die Abteiltür kratzt wirkt der junge Mann als hätte er nie aus seinem Buch aufgeschaut. Nur der Sitz ist ein anderer. Dem Geschäftsmann mit dem Aktenköfferchen nickt er freundlich zu.

Beim nächsten Halt verabschiedet er sich höflich von den Passagieren aus dem mittlerweile vollen Abteil und steigt aus. Ich habe noch fast zwei Stunden Fahrt vor mir. Mein Blick schweift wieder aus dem Fenster. Ich habe keine Lust mich mit der älteren Dame, die mich schon mehrfach angesprochen hat, zu unterhalten. Auch diesmal sehe ich die Landschaft nicht wirklich. Habe ich eben geträumt?

Die Hochzeitsfeier verläuft erwartungsgemäß. Festliche Trauung, viel zu viel Essen, unerträgliche Unterhaltungsspiele und niemand tanzt mit mir. Nur diesmal macht es mir nichts aus. Meine Gedanken verweilen in einem absurden Traum.

Bevor ich die Jeans in die Waschmaschine werfe, kontrolliere ich die Taschen. Ein benutztes Taschentuch, ein Kaugummipapier und ein zusammengefalteter Zettel. Der verzottelte Einkaufszettel? Ich klappe ihn auseinander und lese eine E-Mail-Adresse mit seinem Namen.

Mit dem Thema „Altersunterschied“ befasst sich auch der Artikel Gedichtversuch.

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