REZENSION: Zur Welt kommen
„Im Erwachsenwerden liegt die Chance, das eigene Leben noch einmal anders zu begreifen. Auch Erwachsene werden, indem sie Kinder bekommen, neu geboren.“ fasst die Buchrückseite von Zur Welt kommen ein Gefühl in Worte, für das ich bislang keine eigenen hatte.
Es ist kein Geheimnis, dass die Geburt eines Kindes eine radikale Veränderung des eigenen Lebens mit sich bringt. Darüber hinaus impliziert das Bild des selbst neu geboren Werdens, dass man in seine Elternrolle hineinwachsen muss und sich dabei in gewisser Weise zu einem neuen oder zumindest anderen Menschen entwickelt. Dieser Gedankengang und die enthusiastischen Rezension von Elisabeth Thadden in der Zeit weckten mein Interesse und gaben den Ausschlag zum Kauf des Buches.
Zur Welt kommen ist das gemeinsame Werk des Ehepaars Svenja Flaßpöhler und Florian Werner. Die weitestgehend in Vollzeit arbeitende Philosophin und der eher in Teilzeit von zu Hause arbeitende Literaturwissenschaftler kündigen im Untertitel an, ihre Elternschaft als philosophisches Abenteuer zu begreifen. Das Ergebnis sind 44 kurze, mit Stichworten überschriebene Texte, unterteilt in die zwei Blöcke „Die Tochter“ und „Der Sohn“. In ihnen reflektieren die Autoren einzelne Situationen und Gedankengänge zum Thema Elternschaft und ziehen mal mehr und mal weniger bekannte Denker zurate. Beginnend mit „Anfangen“ und der Entscheidung ein Kind zu bekommen und endend mit „Aufhören“ und der Überlegung kein weiteres zu bekommen, sind die Texte chronologisch geordnet.
Die einzelnen Texte sind handlich kurz, selbstironisch-humorvoll und auch als Abendlektüre für gestresste Eltern geeignet
Das Buch ist unterhaltsam und leicht zu lesen. Die Befürchtung, mal wieder einen kleingedruckten kondensierten Abriss durch die abendländische Geschichte der Philosophie zu bekommen, hat sich zum Glück nicht bewahrheitet. Die einzelnen Texte sind handlich kurz, selbstironisch-humorvoll und auch als Abendlektüre für gestresste Eltern geeignet.
Nachtrag: Ich will nicht beurteilen, in welchen Umfang Philosophen heutzutage neue relevante Ideen publizieren. Allerdings bin ich nicht die Einzige, die den Hang zum Zusammenfassen und Bewerten der Ideen ihrer Vorgänger, beobachtet.
Vor dem Lesen eines Textes stolpert man zunächst über seine Überschrift. Das einzelne Stichwort scheint auf den ersten Blick nicht immer einen Bezug zum Thema Elternschaft zu haben. Nach anfänglichem Ärgern macht es aber bald richtig Spaß darüber nachzudenken, was einem selbst zu dem Stichwort in den Sinn kommt.
Häufig sind die Situationen und Gedankengänge zum Thema Elternschaft im Mama-Blog-Stil verfasst. Diese Passagen tragen zur Unterhaltung bei und fungieren als Aufhänger für tiefer greifende Gedanken. Das funktioniert leider nicht bei allen Texten gleichermaßen. Die Beschreibung der Geburt, die Scheu vorm Durchtrennen der Nabelschnur oder das Hoffen auf ein zweites Kind, sind banal und werden doch ausführlich beschrieben. Das geht so weit, dass zuweilen die Verweise auf die wichtigen Denker deplatziert wirken. Sie machen den Eindruck eines Versuches, den fehlenden Tiefgang durch kleine kosmetische Verbesserungen zu übertünchen. Bedauernswerterweise driftet an einigen Stellen auch die Sprache „ins pullerwarme Wasser“ ab.
Neben den banalen gibt es leider auch die kaum nachvollziehbaren Texte. Nach der Geburt sofort den Wunsch nach einem weiteren Kind zu verspüren oder die Mutter mit einem Transportmittel zu assoziieren, ist weder gängig noch nachvollziehbar. So wird höchst subjektives Empfinden zur wackligen Basis eines Philosophiegebäudes. Richtig befremdlich wird es wenn Florian Werner beim Küssen und Liebkosen des Kindes Gedanken zum Thema Kannibalismus kommen.
Und wenn dann statt dem gängigen Kannibalismus oder der synonymen Menschenfresserei der Begriff „Anthropophagie“ verwendet wird, nervt das. Solche gelegentlich eingestreuten Fachbegriffe stehen in unpassendem Gegensatz zu den ansonsten leicht lesbaren Texten. Überliest man teleologisch in einem auratischen Moment diese und weitere Arkana, bleibt nicht einmal ein schlechtes Gewissen zurück, den Duden nicht zurate gezogen zu haben.
Trotz dieser Kritik finden sich zwischendrin immer wieder interessante Texte. So bekennt etwa Svenja Flaßpöhler wie gut ihr die Berufstätigkeit tut, weil sie weiß, dass ihre Kinder in sicheren Händen sind. Nicht unbedingt ein neuer Gedankengang für die moderne Mutter, doch tut es gut ihn in einem solchen Buch zu lesen. Gleichzeitig erkennt man aber auch, dass selbst eine in Vollzeit arbeitende Philosophin die Grenzen der Natur wahrnimmt und die Austauschbarkeit der Rollen als begrenzt empfindet.
Freude bereiten auch die Erfahrungen von Florian Werner aus den Eltern-Kind-Kursen, die trotz genderneutraler Umbenennung immer noch Mutter-Kind-Kurse sind. Er fühlt sich plötzlich einer Minderheit zugehörig, was für ihn ungewohnt ist, und zieht den Bogen zu den fehlenden Frauen in den Chefetagen.
Auch die Frage, ob das Kind die Liebe der Eltern bereichert oder zersetzt, werden sich die meisten Eltern schon einmal gestellt haben, ohne dass sie den Gedanken laut ausgesprochen hätten. In den Texten „Vaterliebe“ und „Supplement“ werden die scheinbar gegensätzlichen Feststellungen, dass ein Kind die Liebe bereichert, aber gleichzeitig die Mutter bis zur sexuellen Unlust sättigt, gegenüber gestellt.
Ehe man sich versieht werden die Kinderklamotten aussortiert und der letzte Text ist gelesen
Leider ist das eine der wenigen Stellen, an denen unterschiedliche Sichtweisen der beiden Autoren erkennbar werden. Die eingangs angekündigte Diskussion will nicht so recht aufkommen. Dazu sind die gelegentlichen kurzen Einwürfe des Partners zu selten und häufig auch zu banal. Da wird mal ein kleiner Streit vom Zaum gebrochen, ob das Kind zuerst „Mama“ oder „Papa“ gesagt hat. An anderer Stelle steht ein „Amen“ oder „Ich auch“.
Interessanter wäre ein Disput darüber, ob die Geburt eines Kindes wirklich etwas körperlich, sozial und politisch radikal Neues ist, wie die Autoren behaupten. Für die Eltern stellt die Geburt ganz sicher eine große Veränderung dar, aber biologisch und gesellschaftlich betrachtet ist sie eines der normalsten Dinge auf der Welt. Auch werden einige Mütter Svenja Flaßpöhlers Vorwurf widersprechen wollen, es sich in ihrer Opferrolle zu bequem zu machen. Sei es, dass der wenig emanzipierte Partner am „traditionellen Rollenverständnis“ festhalten will oder ganz fehlt, oder dass die von ihr erwähnten Betreuungsangebote für Kinder lückenhaft sind.
Ehe man sich versieht werden die Kinderklamotten aussortiert und der letzte Text ist gelesen. Die Kinder sind ein ganzes Stück gewachsen und wir als Eltern ebenfalls.
Svenja Flaßpöhler, Florian Werner: „Zur Welt kommen. Elternschaft als philosophisches Abenteuer“. Blessing, München 2019, 224 Seiten, 18,50 Euro.
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